Patient: Agilität in der Produktentwicklung, wenn der Zweck verloren scheint

Tim

Agile Methoden galten als modernes Heilmittel für alle unternehmerischen Schmerzen

  • Increase Time to Market
  • Reduce Waste
  • Boost Employee Performance

Die Bestandsaufnahme nach dieser Pillenkur für eine bessere Zukunft erscheint ziemlich trostlos. Sind die Nebenwirkungen unterschätzt worden? Oder hat das Heilmittel zu viel versprochen? In diesem Artikel versuche ich eine Art “agile” Diagnose und erzähle warum manchmal weniger, mehr ist. 

Was war Agilität doch gleich?

Im Rahmen des agilen Manifests von 2001 (ja wirklich schon 24 Jahre alt) hat man es versucht zu formulieren:

  • Individuen und Interaktionen über Prozesse und Werkzeuge
  • Funktionierende Software über umfassende Dokumentation
  • Zusammenarbeit mit dem Kunden über Vertragsverhandlung
  • Reagieren auf Veränderung über das Befolgen eines Plans

Wenn der Kontext einer Organisation sich als volatil, unsicher, komplex und mehrdeutig einschätzen lässt – kurz: VUCA,  dann lohnt es sich, den „agilen Apothekerschrank“ zu öffnen. In solchen Umfeldern können agile Ansätze helfen, schneller zu reagieren, besser zu lernen und flexibler auf Veränderungen einzugehen.

Doch wie bei jedem Medikament gilt: Achte auf den Beipackzettel!

  • Dosierung: Nicht in jedem Bereich ist VUCA gleichermaßen ausgeprägt. Manchmal reicht eine kleine Dosis, manchmal braucht es ein umfassenderes Vorgehen.
  • Agilität ist kein Framework: Agilität ist in erster Linie eine Arbeitsweise – keine Methode, die man einfach „installieren“ kann. Wer Agilität nur oberflächlich kopiert, landet schnell im Cargo-Kult.
  • “Agiler werden” ist kein Ziel: Agilität ist kein Selbstzweck. Sie soll Organisationen dabei unterstützen, ihre eigentlichen Ziele besser zu erreichen – etwa Kundennutzen zu schaffen, schneller Innovationen zu liefern oder Mitarbeitende stärker einzubeziehen.

Probier’s mal mit den agilen Gesundheitscheck:

Der erste Schritt könnte sein für sich und die Organisation zu prüfen, wie viel Agilität braucht man denn gerade (noch)? Dabei hilft es sich zunächst auf eine Abteilung, einen Bereich oder ein Team zu fokussieren:

  • Medikamentenplan prüfen: Welche agile Praktik erscheint eher als Placebo, als wirklich zielführend? (“Haben wir immer schon so gemacht” ist ein guter Indikator)
  • Ursprüngliche Diagnostik prüfen: Weshalb ist die Praktik denn ursprünglich eingeführt worden? Welches Problem wollten wir damit lösen, um unsere unternehmerischen Ziele zu erreichen?
  • Neue Diagnose erstellen: Und nun wird es spannend – was hat sich geändert? Der Kontext? (z.B. andere Marktlage, viele neue Mitarbeiter, neue Organisationsstruktur) Ist die Dosis falsch? (z.B. Product Review findet zu häufig statt oder nur das Entwicklungsteam nimmt teil)

Auf Basis der Diagnose lassen sich nun neue Hypothesen bilden.

Folgendes Beispiel aus der Praxis soll das verdeutlichen:

Diagnose: “Wir arbeiten zwar in Sprints, aber die Ergebnisse sind wenn überhaupt nur “Teil-Ergebnisse” und bringen keinen Kundennutzen. Dadurch wird das Arbeiten in Sprints immer wieder in Frage gestellt – lange Planungs- und Review Meetings wirken demotivierend.

Hypothese: “Wenn wir nicht in Sprints, sondern einfach “konstant” arbeiten verringern wir den Planungs- und Review-Aufwand. Z.B. findet ein echtes Review nur dann statt, wenn es ein “echtes” Ergebnis gibt. Dadurch wird die Organisation insgesamt schneller. 

Diese Hypothese gilt es nun zu bestätigen oder zu falsifizieren. Das wäre ein erster Schritt wieder zu mehr Wirksamkeit und damit zu richtiger Agilität. Und ganz nebenbei ist der Weg dorthin damit genauso agil wie das Anpassen der bisherigen “agilen” Praktik.

Der agile Gesundheitscheck ist also wie ein Besuch beim Arzt: keine Radikalkur, sondern eine bewusste Anpassung oder gar Reduktion der Behandlung, damit die Organisation wieder gesünder, beweglicher und lernfähiger wird. 


Du glaubst ein agiler Gesundheitscheck könnte auch in Deinem Kontext hilfreich sein? Du möchtest das Thema gerne an einem weiteren Beispiel besser verstehen? Oder Dich interessiert einfach das Thema Agilität und Organisationsentwicklung?
Ich freue mich über Deine Nachricht!

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Über den Autor

Vater von 2 wunderbaren Jungs. Agile Führungskraft und leidenschaftlicher Gestalter von wirksamen Organisationen. Nach meinem Informatikstudium und über zwölf Jahren Erfahrung in der digitalen Produktentwicklung im Automotive Bereich leite ich heute als Head of Engineering eine internationale Software Entwicklungsabteilung im Beauty Sektor. Nebenbei berate und coache ich Einzelpersonen, Teams und Organisationen für mehr Wirksamkeit. Mein Fokus liegt dabei auf wirklich nachhaltiger Veränderung — dort, wo Technologie und Zusammenarbeit echten Mehrwert schaffen.

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